Man wusste von jeher, dass das kleine Haus, das einige Schritte vom grossen Spital entfernt und von diesem aus nur durch einen Fussweg erreichbar war, ein Geheimnis barg; deswegen zögerte man immer, Kranke dort unterzubringen, wiewohl es aufs Beste eingerichtet war, und Sonne und Licht es umfluteten. Einstmals aber musste es doch benützt werden: Eine schwerkranke Frau wurde des Abends spät noch ins Spital gebracht, weil sie zu Hause keine Wartung finden konnte, und da das Krankenhaus überfüllt war, wurde sie, wiewohl nur zögernd, in das kleine Haus verbracht. Wenn es dann an die Türe klopfe, sagte der Arzt zu der Frau, bevor er sie verliess, dann möchte sie doch ja nicht «Herein!» rufen. Dann wurde der Kranken noch alles für die Nacht hergerichtet, und bald darauf verfiel sie in den tiefen Schlaf der vollständigen Erschöpfung.
Da schreckte sie plötzlich auf. Es hatte ganz deutlich geklopft. «Herein!» sagte die Frau schwach und noch halb im Schlaf, denn sie dachte im Augenblick nicht an die Weisung des Arztes.
Da öffnete sich die Tür, und herein trat geräuschlos eine Krankenschwester in schwarzem Gewand, das Gesicht durch eine über die Stirn fallende weisse Haube verdeckt. Sie trug eine Flasche, aus der sie schweigend ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit füllte. Schweigend, ohne das Antlitz vom Boden zu heben, hielt sie es der kranken Frau hin. «Ich will nichts», brachte diese stöhnend hervor und rückte angsterfüllt an die Wand. Aber die Hand mit dem Glas folgte ihr nach und suchte energisch nach ihrem Mund. Die Frau wollte unter die Decke schlüpfen, aber die Krankenschwester stützte den Ellbogen darauf und hinderte sie daran. Da packte Verzweiflung die kranke Frau. Mit aller Kraft, die ihr noch zu Gebote stand, schlug sie der Krankenschwester das Glas aus der Hand, so dass dieses an die Wand fuhr und in tausend Stücke zerschellte.
Als die Nachtwache auf ihrer Runde zu der Kranken gelangte, fand sie diese in hohem Fieber und mit hochangeschwollenem Kopfe vor. Am andern Morgen wurde sie ins grosse Spital übergeführt. Man schloss die Läden des Hauses und riegelte die Türen fest zu. Kranke wurden keine mehr in das Häuschen gelegt, denn nun wusste man, dass die Krankenschwester, die an diesem einsamen Ort einst eine Kranke verdursten liess, noch immer wiederkehren müsse und noch immer nicht erlöst sei.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch