So jemand gestorben ist, ohne sich mit seinem Feinde auszusöhnen, so jemand einen Groll ins Grab mitnimmt, so findet er in seinem Grabe keine Ruhe, sondern muss ihm immer und immer wieder entsteigen und an den Ort zurückkehren, an dem er zum letzten Male sich gezankt.
Eine Frau wusch noch nachts elf Uhr ihre Wäsche am grossen Brunnen an der Schütte, als sich plötzlich eine in die Mauer eingelassene eiserne Türe in ihren rostigen Angeln drehte und ein tiefer Gang in der Mauer sichtbar ward. Heraus traten ein junger Herr in Kniehosen und seidenen Strümpfen, mit Zweispitz und Degen, und eine junge Dame in kostbarem Rokokokleid, mit einem federgeschmückten, grossen Hut, unter dem zierliche, graue Locken bis auf die Schultern hinunterfielen. Sie blieben beide stehen und schauten einander an. Da brach der Herr plötzlich das Schweigen. Die heftigsten Vorwürfe schleuderte er der Dame ins Gesicht. «Ruhig,» rief die mit schriller Stimme, «ich will jetzt endlich einmal nichts von allem mehr hören!» und stampfte zornig mit den Stöckelschuhen auf, während eine dunkle Röte ihre jungen Züge färbte. Und dann brach eine Flut von leidenschaftlichen Worten über ihre rotgefärbten Lippen. Der Herr erwiderte halb deutsch, halb französisch. Sie ballt die kleinen Fäuste - er greift nach seinem Degen.
Die Waschfrau schreit entsetzt auf: «Das gibt ja Mord und Totschlag!»
Da schlägt vom nahen Turm die Uhr langsam, deutlich zwölf. Ein dunkler Schatten gleitet auf die beiden hernieder, hüllt sie in ein tiefes Schwarz. Noch das Zuklappen der eisernen Türe, dann kein Laut mehr. Alles ist wieder wie zuvor. Zitternd und bebend rafft die Wäscherin ihre Wäsche wieder zusammen und wankt die Treppe hinauf, der Brunngasse zu.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch