Der Milchriemen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor alten Zeiten lebte zu Hasli im Grund eine Frau, von welcher die Leute sagten, sie könne am Riemen ziehen. Damit verhielt es sich nämlich folgendermassen: Sie ging in den Stall, zog zwei Lederriemen durch die Barrenlöcher und nannte die Kühe der Nachbarn beim Namen, indem sie sprach:

‏«Herrengut und Sennenzoll,

‏Von jeder Kuh zwei Löffel voll.»

‏Dann stellte sie die Melchter unter die Riemen und tat, als ob sie die Kühe melke. In der Tat füllte sich auch das Gefäss bald mit der herrlichsten Milch, welche die Frau an Arme des Dorfes und namentlich an Kinder verteilte. Da stach einst die Neugierde einen Nachbarn. Zu gerne wollte er wissen, wie sie, die doch nur eine Kuh hatte, zu so viel Milch komme. Heimlich versteckte er sich darum auch im Stalle. Da kam sie herein, sagte ihren Spruch und füllte die Melchter am trockenen Barren.

‏Der Nachbar hatte sich den Spruch wohl gemerkt und lief voller Freude nach Hause, um das einträgliche Stücklein nun selber zu probieren. Aber mit zwei Löffeln voll war er nicht zufrieden, sondern sprach:

‏«Herrengut und Sennenzoll,

‏Von jeder Kuh zwei Kübel voll.»

‏Da fing die Milch an zu fliessen, füllte die beiden Kübel, floss unaufhörlich zu, bis der Stall und zuletzt das ganze Haus voll war und der gierige Mann elendiglich ertrinken musste.

‏Als das die gute Frau Nachbarin gewahrte, war sie zornig und rief:

‏«Das tut mir keiner mehr nach!»

Aus: P. Keckeis, M. Waibel, Sagen der Schweiz. Bern, Zürich 1986 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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