In einer kalten, aber mondhellen Dezembernacht sassen, wie es auf den Dörfern zu geschehen pflegt, Knaben und Mädchen in dem Zimmer eines freundlichen Bauernhauses beisammen, und letztere waren emsig teils mit Stricken oder Nähen, teils mit Spinnen beschäftigt. Man hatte schon eine geraume Zeit lang viel von Gespenstergeschichten und anderen sonderbaren Ereignissen gesprochen, als einer der Knaben die Mädchen fragte, welches von ihnen sich wohl getraute, jetzt ein Kreuz vom Kirchhofe zu holen? Niemand wollte es wagen. Endlich sprach die Jüngste, ein Mädchen von 18 Jahren: o, das ist nichts anderes, das darf ich schon tun. Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, so eilte sie auch schon zur Türe hinaus. Ihr folgte aber in einiger Entfernung ihr Liebhaber; doch von ihr unbemerkt, da er glaubte, es könnte ihr von irgendeinem Nachtschwärmer Leides zugefügt werden. Das Mädchen langt auf dem Kirchhofe an, zieht ein Kreuz aus einem Grabe und geht wieder ins Haus zurück. Alle wundern sich über seinen Mut, sagen aber, es solle nun das Kreuz wiederum zurücktragen und es einstecken. Das Mädchen geht wieder zurück, wie es aber das Kreuz einstecken will, zupft eine knöcherne Hand, die sich schnell aus dem Grabe erhebt, es bei der Schürze und augenblicklich fällt es tot zu Boden. Ihr Geliebter, der alles mit ansah, eilt voll Entsetzen ins Haus und verkündet es den anderen; Alles eilt bestürzt auf den Kirchhof; das Mädchen war aber nicht mehr ins Leben zu rufen, es hatte für seinen frevelhaften Mut gebüsst.
Aus: R. M. Kully, H. Rindlisbacher, Die älteste Solothurner Sagensammlung, in: Jurablätter. Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde, 1987. Mit freundlicher Genehmigung von R.M.Kully. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch