Wer von der Stadt Solothum durch den Fegetz nordwärts wandert, erblickt am Ende der Allee einen schönen, früher einsam gelegenen und nur im Sommer bewohnten Herrensitz. Es ist das Schloss Blumenstein. Es gehörte einst der vornehmen Familie der Stäffis von Mollondin und hat heute dem neu entstandenen Quartier den Namen gegeben. Dieser Herrensitz war' in früheren Zeiten der Schauplatz vieler Spukgeschichten. Wer des Nachts dort vorbeiging, vernahm oft ein Weinen und Jammern, das zuweilen durch wehmütige Klagerufe unterbrochen wurde. Nicht selten öffnete sich durch unsichtbare Geisterhand das Fallgitter, das beim Kloster Nominis Jesu lag und den Weg zum weithin sichtbaren Herrenhaus abschloss.
In einer sternklaren Herbstnacht zu Ausgang des 18. Jahrhunderts kehrte ein junges Milchmädchen, das sich länger als üblich in der Stadt mit den goldenen Dächern aufgehalten hatte, nach St. Niklaus zurück. Als es im Begriffe war, von dem Fegetz ostwärts abzubiegen, sah es zu seiner Verwunderung die Säle des verlassenen Schlosses festlich beleuchtet. Das eiserne Gittertor, das den südlichen Torweg abriegelte, fiel klirrend zurück. Ein vornehmer Herr mit fein gepuderter Perücke, deren gekräuselte Locken ihm über die Schultern herabfielen, lehnte sich übermütig zum Fenster hinaus und winkte dem tausendwöchigen Kind mit bemanschetteter Hand freundlich zu. Von Neugierde getrieben, näherte sich das unverdorbene Mädchen zaghaften Schrittes dem Schlosse. Je näher es dem schön gewachsenen Junker kam, desto mehr verblasste aber dessen Gesicht. Entsetzt wandte sich die Tochter ab und schlug ein Kreuz. Im gleichen Augenblick verschwand der ganze Spuk, und alle Lichter erloschen. Schnell fasste sich das geängstigte Mädchen ein Herz und eilte, so gut es die Kräfte noch erlaubten, heimwärts. Fiebernd erreichte es endlich die sorgende Mutter. Von Stund an befiel es die fallende Sucht. Die abgemagerte Tochter verliess das Haus nicht mehr, bis wenige Jahre später ihre Gespielen sie auf den Friedhof trugen.
Der Geist des Junkers aber, der einst als übermütiger Söldneroffizier in französischen Diensten drei leibeigene Soldaten gegen einen wohldressierten
Jagdhund eintauschte, soll zur Strafe noch heute, bald in Gestalt eines Menschen, bald in Form eines Hundes im Blumensteingebiet ruhelos herumirren.
DAS GEYTIER
Seit alten Zeiten herrscht im westlichen Gebiet der Stadt Solothurn, im schmalen Landstreifen, der vom trotzigen Marktturm bis zu den ehemaligen Mühlen von Bellach und von der Aare bis zur Loretokapelle reicht, ein grausiges Gespenst. Es ist das Gey- oder Göisstier. Oft wird es auch Hirtakus genannt, da man in ihm den Geist des gleichnamigen römischen Statthalters zu erkennen glaubt, der einst die glaubenstreuen thebäischen Soldaten Urs und Viktor enthaupten liess. Zur Strafe muss der verstockte Heide bis zum Jüngsten Tag im erwähnten Gebiet in Tiergestalt umherwandeln. In früherer Zeit bevorzugte der laut stöhnende Geist vor allem die Gegend des Zollhauses vor dem Bieltor. Manch ein Zöllner wurde um Mitternacht durch das fürchterliche Geheul aufgeschreckt und ans Fenster getrieben. Was war zu sehen? Ein kalbsähnliches, grauenerregendes Ungetier, das zusehends wuchs und wuchs, bis es die Grösse eines Kamels erreicht hatte, stand im Stadtgraben; langsam hob es die langen Vorderbeine und schwang sich mit einem mächtigen Sprung auf die Schanzen. Dann verschwand es in der stockdunklen Nacht.
Oft begegnete der Nachtwächter, wenn er in der Hinteren Gasse, in der Gurzein- oder Schmiedengasse die Stunden ausgerufen hatte und das Horn an den Mund setzen wollte, unversehens dem jämmerlich heulenden Gespenst. Der Schrecken fuhr dem Wächter durch Mark und Bein, und er kehrte meist krank und mit fest geschwollenen Gliedern nach Hause.
Aber auch mit andern Leuten trieb Hirtakus durch seinen schrillen Schrei Schabernack oder er rächte sich gar an ihnen. Entdeckte er bei der Zöllnerin vor dem Tore eine eingelegte Wäsche, so ruhte er nicht, bis alle Tücher im schmutzigen Schanzgraben lagen. Spätheimkehrende Städter aber, die Weg und Steg wie die Hosentaschen zu kennen glaubten, führte er irre. Er peitschte sie durch sein ohrenbetäubendes Göissen vorwärts, bis die arg Verwirrten im einstigen Werkhofweiher oder im Kot des Stadtgrabens stecken blieben und nur durch eine gute Seele, die über den Opfern das Zeichen des Kreuzes machte, gerettet wurden.
Noch heute soll das Ungeheuer seine Opfer finden, die es zuweilen in mitternächtlicher Stunde kreuz und quer durch die stillen Gassen der St. Ursen- stadt irren lässt.
Aus: L. Altermatt, Solothurner Sagen, in: Jurablätter. Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde, Band 13, 1951. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch